Ina Dentler - Autorin von Romanen & Erzählungen

 

Bettinas Zettel


11. Harder-Literaturwettbewerb
Erzählung - veröffentlicht in der Anthologie 'Im Westen nichts Neues?'

 

Bettinas Zettel 

spürt Tom durch die Brusttasche seines Hemdes hindurch. Links, auf der Herzseite. Er muss lächeln, obwohl ihm nicht danach zumute ist. Ganz und gar nicht. Er will nicht glauben, dass er sie verloren haben soll. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Ihm ist kalt, obwohl er in ständiger Bewegung ist. Lautlos, geschmeidig und flink wie ein Rotfuchs, und mit geschärften Sinnen. Bei Sonnenaufgang muss er sein Ziel erreicht haben.

 

Als er Bettina zum ersten Mal begegnete, stand sie allein am Rande einer ausgelassenen Menge von Partygästen. Es war unerträglich heiß in Leas Appartement. Bei geöffneter Terrassentür hatte die Air-Condition keine Chance. Grund genug, um ein eisgekühltes Getränk zu nehmen und auf die Unbekannte zuzugehen. Es musste die neue Doktorandin in Leas Institut sein. Ihr Bruder, sein Freund Amos, hatte augenzwinkernd von ihr gesprochen. Eine Deutsche, die für ein Jahr nach Tel Aviv gekommen sei. Es ging um ein biologisches Projekt. Worum genau, hatte Amos nicht gewusst.
Ich habe dich hier noch nie gesehen, sagte Tom auf englisch, und reichte der Unbekannten ein Glas Orangensaft.
Danke, sagte sie und schien erleichtert, auf englisch angesprochen worden zu sein. Für niemanden hier ein Problem, aber die eingeschworene Gesellschaft war völlig mit sich selbst beschäftigt. Lea und Amos, die sie hätten vorstellen können, waren nirgendwo zu sehen.
Ich bin Tom Shmolev, stellte er sich vor.
Und ich Bettina Wagner“, sagte sie und erwidert sein Lächeln.
Woher kommst du? ..., fragte er, und probierte, indem er ‚Bettina’ hinzufügte, ihren Namen aus. Der Name gefiel ihm.
Aus Berlin, sagte sie leise und sah ihn an, als erwarte sie einen Wust unangenehmer Fragen.
Denkt gleich an ‚History’, ging es ihm durch den Kopf. Geschichte war kurzfristig sein Studienfach gewesen. Alte Geschichte die uns nichts angeht, hätte er gerne gesagt, und dass sie beide zu einer neuen Generation gehören, … aber er kannte sie ja noch nicht.
Berlin ist total ‚in’, sagte er stattdessen, und freute sich, dass sie zu ihrem Lächeln zurückfand. Alles war wieder hell an ihr. Das schulterlange sandfarbene Haar, ihre graugrünen Augen mit goldgelben Tupfern darinnen, ihre Haut. Auch wenn gebräunt, viel heller als seine. Faszinierend, wie er fand. Obwohl ihn diese Äußerlichkeiten sofort in ihren Bann zogen, sie allein hätten wohl nicht ausgereicht, um sich schon an diesem Abend so tief mit ihr verbunden zu fühlen. Doch der erste Augen-Blick hatte ihnen genügt, um die Party zu verlassen und die 200 Meter zum Strand zu gehen. Sie begannen einander Geschichten über sich zu erzählen. Jeder die Biografie, die zu dem anderen zu passen schien, eine der vielen, die alle der Wahrheit entsprachen und doch unterschiedliche Akzente setzten. Vor allem sprachen sie über ihre Kindheit, die extrem unterschiedlich verlaufen war, und kamen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten dann auch auf aktuelle Interessen und Vorhaben zu sprechen. Sie entdeckten ihrer beider Leidenschaft für das Lesen, tauschten sich wetteifernd über ihre Lieblingsbücher aus und erzählten einander von ihren Reiseplänen. Bettina wollte unbedingt Ägypten bereisen. Tom sprach von seiner Leidenschaft für das Tauchen. Er fuhr regelmäßig nach Elat, um in die geheimnisvolle Unterwasserwelt abzutauchen. Und sie sprachen von Träumen - auch von gescheiterten. Das war schon etwas Besonderes. Ebenso ihr langes einvernehmliches Schweigen danach, als sie die Schultern umfaßt, eng beieinander im warmen Sand saßen und dem Meer lauschten, das sich in unendlichem Gleichmaß hin und her bewegte. Auf der Strandpromenade erloschen die Lichter. Die lärmende Musik verstummte. Die Finsternis verbarg die restlichen Nachtschwärmer - auch sie. Tom spürte Bettinas Hand die seine ertasten, die durch ihre Haarflut strich. Er genoß den Mandelgeruch ihrer Haut, ihre nachgiebigen Lippen, zog sie behutsam auf den Sand, der ihnen ein weiches Lager bot.
Als Tom Bettina gegen Morgen zurück brachte - sie übernachtete bei Lea, da ihre eigene Unterkunft am Stadtrand in Salame lag, war es, als würden sie sich schon Jahre kennen.
Danach sahen sie sich jeden Tag, an dem es nur möglich war, oder waren über Handy oder Internet in Kontakt. An freien Tagen zeigte er ihr die schöne Seite Israels. Nach einem Ausflug auf den Berg Hermon das Naturreservat bei Tel Dan, das einem Garten Eden gleicht. Die endlosen roten Anemonenwiesen auf dem Weg nach Beer Sheva. Und südlich vor Elats Küste die bald 300 Meter emporragenden mittelalterlichen Ruinen der Koralleninsel. Nicht weit davon entfernt konnte Bettina Toms Leidenschaft nachempfinden, als sie in einer Taucherglocke die farbenprächtige und formenreiche Fauna und Flora des Roten Meeres beobachtete.

 

 

Nach zwei Monaten war Tom klar, dass er mit Bettina zusammenbleiben, mit ihr zusammenleben wollte. Also bat er seine Mutter sie einzuladen und kennenzulernen.
Eine Goj, ohgottohgott, stöhnte sie und wollte nicht aufhören, ihren Kopf heftig hin und her zu wiegen, was Tom fast körperlichen Schmerz verursachte. Er kannte diesen Zustand, bei dem seine Mame alle Gedanken und Gefühle durcheinander schüttelte, um sie wie ein Kaleidoskop irgendwann neu geordnet festzuhalten. Er musste warten.
Bring’ sie am Schabat mit, sagte sie schließlich in finsterem Tonfall, aber ihre Augen umfaßten ihn liebevoll und dahinter flackerte schon die Neugier. Als sie Bettina dann kennenlernte, die bei aller Zurückhaltung Wärme und Freundlichkeit ausstrahlte, aufmerksam zuzuhören und auf Fragen ebenso interessiert wie klug und einfühlsam einzugehen vermochte, konnte sie sich ihr nicht entziehen.
Sie hat ein so liebenswürdiges Wesen, du verstehst?
Und ob er sie verstand.

 

 

Natürlich schwang nach diesem ersten Besuch, dem viele folgten, bei ihren Mutter-Sohn-Gesprächen auch Sorge mit. Doch zu allererst wollte sie ihn glücklich sehen. Ihre Liebe zu Tom, der durch den frühen Tod ihres Mannes ihr einziges Kind geblieben war, war noch inniger und überschwänglicher, als die, die jeder jüdischen Mame nachgesagt wird. Sie, die sich viele Kinder gewünscht hatte, konzentrierte sich allein auf ihn. Mitunter haderte sie allerdings im Stillen, daß Toms Liebste ausgerechnet eine Goj sein mußte. Doch so war es nun einmal, und wie stets in schwierigen Situationen, brachte sie auch eine Auswanderung ins Gespräch, und lobte ihre kluge Voraussicht, ihm den Aller-Welts-Namen Tom gegeben zu haben. Sie sei sich nie sicher gewesen, ob man in Israel bleiben solle, erklärte sie den Verwandten. Schließlich würde man hier die ‚Jüdischkeit’ russischer Einwanderer anzweifeln, ihr Tom sei aber gut genug, für Israel zu sterben. Und dann erst Bettinas ‚Jüdischkeit’? Aber die Liberalen werden sie schon aufnehmen, keine Frage. - Natürlich auch keine Frage, ob Bettina überhaupt jüdisch werden wollte.
In einem war ihre Mutterliebe mit Bettinas Liebe vergleichbar - nie hatte sich Tom von einer Partnerin so ehrlich geliebt gefühlt. Er erwiderte ihre Zuneigung aufrichtig, und doch hatte er ihr verschwiegen, dass er sein Studium aus finanziellen Gründen abgebrochen und Berufssoldat geworden war.
Amos warnte ihn. Seine Schwester hatte ihm gesagt, daß Bettina eine überzeugte Pazifistin im Sinne Gandhis und in der Friedensbewegung aktiv sei. Tom blieb nichts anderes übrig als allen Mut zusammenzunehmen, um mit Bettina zu sprechen. Doch als er sah, wie verstört sie auf den Beruf des Soldaten reagierte, blieb es bei dieser Halbwahrheit. Er spürte, wie sie innerlich einen Schritt zurücktrat und ihn betrachtete, als hätte sie noch unzählige Fragen, die sie aber, erschrocken wie sie war, nicht gleich formulieren konnte. Tom versuchte ihr zu erklären, dass er sich als Teil eines Überlebenskampfes sah, es seine Aufgabe war, der Bedrohung seines Landes zu begegnen und Attentate zu verhindern, damit die Menschen in Israel friedlich leben könnten.
Bettina unterbrach ihn mit der knappen Bemerkung, dass die Mehrzahl der Palästinenser nichts anderes wünschten.
Aber ihren Führern geht es um Israels totale Vernichtung, entgegnet er, und dass sich sein Kampf nur gegen diese Radikalen richte.
Du vergisst die Unbeteiligten: Frauen, Kinder und unterschätzt den Haß den du säst, der immer neue Feinde nachwachsen läßt. Bettina wandte sich ab. Er legte seine Hände auf ihre Schultern, und war froh, dass sie das zuließ.

 

 

Noch viele Gespräche dieses Inhalts hatten sie mit nicht enden wollenden Argumenten für die eine wie die andere Seite geführt. Vehement vor allem, wenn es um die Siedlungspolitik ging, die in Bettinas Augen jedes Friedensgespräch mit dem Ziel zweier lebensfähiger Staaten, unmöglich machte. Obwohl ihre politischen Ansichten stark auseinandergingen, schien Tom die Tatsache, dass sie so offen ohne einander zu verletzen diskutieren konnten, ein gutes Zeichen zu sein. Er war sicher, dass Bettina die Frau war, die er bisher vergebens gesucht hatte. Als er ihr das gestand, konnte es nicht ausbleiben, dass sie ihn fragte, ob er die Armee verlassen könnte. Gewiss, aber sein Vertrag lief noch drei Jahre. Und er kannte die Folgen, wenn er den Dienst früher quittierte. Er versuchte ihr zu erklären, was das heißen würde. Er müsste sich eine neue Beschäftigung suchen. An sich nicht schwer in Israel. Keiner fragt nach Ausbildungen oder Zeugnissen, man wird für das bezahlt, was man kann und leistet. Für ihn, der sich gut im Elektronikbereich auskennt, eigentlich kein Problem. Aber einen Soldaten, der unehrenhaft aus der Armee ausscheidet, den behandelt jeder wie einen Aussätzigen. Er bekomme keinen Job oder bestenfalls einen, wo er Almosen verdiene. Davon könnte man keine Familie ernähren.
Also wirst Du noch mindestens drei Jahre Soldat sein, stellte Bettina mit tonloser Stimme fest, eine lange Zeit.

 

 

Er hört sie noch seufzen, sieht ihren Blick - bestürzt und ratlos. Wie hätte er ihr gestehen können, Scharfschütze zu sein.
Als er das weiterhin verschwieg, mischte sich Amos ein. Er fühlte sich durch Bettinas grundsätzliche Ablehnung des Militärs persönlich gekränkt; aber auch von Toms Haltung. Also begann er eines Tages scheinbar unbefangen von seinen Einsätzen zu erzählen. Bettinas Gesicht verdüsterte sich. Wie in Zeitlupe wurden ihre Züge straff und starr. Und ihre Pupillen mit den sandfarbenen Flecken hart wie Bernstein.
Würdest du dich als Mörder bezeichnen?, fragte Bettina. Ihr Blick haftete an Amos Lippen, aber Tom wusste nur zu gut, dass sich ihre Frage an ihn richtete. Amos wies ihre Frage empört zurück. Er sei so wenig ein Mörder wie der, der an einem tödlichen Unfall beteiligt wäre, entgegnete er entschieden.
Wie er sich fühle, vorher, nachher, wollte sie wissen. Ihre Stimme klang unerbittlich.
Was soll die Frage? Ich mache meinen Job so gut ich kann, sagte Amos. Er
lebe wie jeder andere auch. Nach einem Einsatz fahre er nach Hause zu seiner Frau und den Kindern. In sein Haus mit kleinem Garten. Dann schlafe er zwei Tage hintereinander. Seine Frau stelle keine Fragen.
Bettinas Hände, die ihre vor der Brust überkreuzten Arme die ganze Zeit festgehalten hatten, zogen die Schultern nach vorn. Tom sah, wie elend sie sich fühlte.
Meine Frau weiß Bescheid, fuhr Amos fort. Nicht über die jeweiligen Einsätze. Aber wenn ich so völlig erschöpft zurückkomme und zwei Tage Schlaf brauche, ist alles klar.

 

 

Eine Pause war entstanden. Tiefe Stille, wie sie jetzt um ihn ist. Und da hinein hört Tom wieder Amos’ Worte, als stünde er neben ihm, leise, als spräche er zu sich selbst: Die Getöteten, ich sehe sie vor mir. Sie sitzen in meinem Kopf und auf meiner Brust. Ich werde sie nicht los.
Genauso ist es, hatte er die Worte des Kameraden bestätigt, und Bettinas Blick standgehalten, der sich in Sekundenschnelle veränderte. Zuerst schien sie verblüfft, dann entsetzt, am Ende unsäglich traurig.

Bis an den Rand des Dorfes haben ihn seine Erinnerungen begleitet. Ab jetzt ist kein Platz mehr für sie. Dwekut ba Matara, ist die Devise. Nur noch das Ziel vor Augen haben, sich mit ihm verbinden, anhaften, geradezu an ihm kleben. Hautnah, wie Bettinas Zettel in seiner Brusttasche: Die Frau eines Scharfschützen kann ich nicht sein, steht darauf. Kein Wort mehr.
Tom schüttelt den Kopf. Dwekut ba Matara, ermahnt er sich, und hört seine Mutter sagen, dass er seinem Großonkel Jakir, dem von Stalin ermordeten General, keine Schande machen solle, aber auch nicht enden wie er.

 

 

Es dämmert. Er sucht Deckung hinter einer Böschung. Unmittelbar daneben fällt das Gelände vier, fünf Meter ab. Der richtige Platz für seine Aufgabe. Nur sie zählt. Und er beginnt tatsächlich zu zählen, all die Attentate aufzuzählen, die der Zielperson zugeschrieben werden. Eine blutige Spur, die nach Vergeltung verlangt, um seine Landsleute vor der Hamas zu schützen. Deshalb ist er hier. Er darf sich nur noch auf sein Ziel konzentrieren, muss mit ihm verschmelzen.
Dwekut ba Matara - mein Ziel und ich sind eins. Ich stelle mein Zielfernrohr auf das Tor des bestimmten Hauses ein. Ich warte. Ein kühler Hauch weht durch mein Haar. Eine Katze ist zu sehen. Ein Hund. Der Ruf von der Moschee ist zu hören. Ich schaue unablässig auf das Tor, lasse es nicht aus den Augen. Wenn es aufgeht, dann … Jemand öffnet das Tor.
Das ist die Zielperson, höre ich über Funk. Der Palästinenser hält eine Tasse in der Hand. Trinkt. Ich lege die Wange an den Gewehrlauf. Prüfe den Wind. Die Einstellung. Die Person steht im Fadenkreuz. Es gibt nur noch mich und die Waffe. Selbst die Kommandos über Funk schweigen. Ich bin völlig auf mich gestellt. Doch irgendwo sind die Kameraden. Verborgen. In einem der Häuser. Auf einem Dach. Doch was ist das? Ein Schatten fällt auf den Mann. Schwärze verdeckt ihn. Der Rücken einer Frau, die von Kindern umringt ist.
Hamten, kommt das Kommando über Funk. Natürlich muss ich warten, was sonst.
Wochen haben sie den Palästinenser beschattet, sein Haus gefunden, seine Gewohnheiten studiert. Das einsame Teetrinken am Morgen. Und nun? Durch das Zielfernrohr starre ich auf den Rücken der Frau. Ein lebendes Schutzschild. Nur ab und an eine seitliche Bewegung, wenn sie sich zu den Kindern herabbeugt - die einzige Chance - doch die Kinder … Ich spüre den Zettel in der Brusttasche. Bevor ich Bettina kannte, habe ich mir zu Mutters Leidwesen nie eine Familie gewünscht.
Wir müssen es hinter uns bringen, bevor das ganze Dorf auf den Beinen ist, brüllt die Stimme über Funk.
Der Countdown läuft: fünf, vier - Tom läßt sich die Böschung heruntergleiten - drei, zwei, eins. Er spürt den Rückstoß seines Gewehres. Hört zwei Sekunden später den ziellosen Schuss. Unbewegt liegt er im Graben, und lauscht in die trügerische Stille hinein. Über sich das frühe Blau des Tages. Eine verirrte Biene summt. Es riecht nach verranntem Gras. Alles ist, als wäre nichts geschehen. Nur der rasende Herzschlag unter der Brusttasche mit Bettinas Zettel, der ihn trotz allem, welche Konsequenz sein Verhalten auch haben wird, warm durchpulst und erleichtert.